Ist Ihnen schon mal passiert, dass Sie unter Stress waren und sich Ihr gesamtes Denken verengt: Der Verstand arbeitet wie eine Problemlösemaschine auf Hochtouren, Gedanken rasen und beginnen zu kreiseln, wenn der Stress nicht aufhört? Mir passiert das laufend. Es ist dann so, als bekäme ich einen Tunnelblick und würde andere Aspekte meines Lebens gar nicht mehr wahrnehmen.
Wenn so etwas passiert, dann ist vorher schon einiges im Gehirn abgelaufen. Und zwar bevor unser Verstandes-Hirn das mitkriegt und daraus Sinn macht.
Man kann sich das autonome Alarmsystem als Echsen- oder Wolfs-System im Hirn vorstellen. Denn es ist viel früher entwickelt worden (vor 500 bzw. 400 Millionen Jahren), lange bevor das Verstandes-Hirn komplett fertig wurde (vor ca. 70.000 Jahren). Den ältesten Teil haben wir also mit Reptilien gemein. Wolfs- & Echsensystem dienen dazu, das Überleben in diesem Augenblick zu sichern.
Prio1 fuer Alarm-System = KörperAktivierung
Die beiden autonomen Wächterinnen (Wolfi & Echse) sitzen u.a. im emotionalen Zentrum unseres Gehirns (in der Grafik mit 2 markiert). Sie scannen die Umwelt über Sehen, Hören, Riechen, Tasten auf potentielle Bedrohungssignale ab (1). Wolfi & Echse sind uns als loyale Wächterinnen zugetan. Sie versuchen, unser Überleben zu sichern. Und zwar ultraschnell, bevor wir das bewusst bemerken. Das tun sie, indem sie im emotionalen Zentrum bei potentiellen Bedrohungssignalen Alarm aktivieren. Dieser wird blitzschnell in den Körper weitergeleitet (2): worauf sich der Atem verflacht, beschleunigt oder aussetzt, die Körperspannung sich verändert, z.B. die Bauch und Nackenmuskulatur verkrampft, der Hals enger wird, mehr oder weniger Blut durch die Blutbahnen gepumpt werden, die Verdauung abgeschaltet wird. Das emotionale Zentrum als sensible Alarm-Anlage merkt über Rückkopplungsschleifen (Nervenbahnen, die vom Körper zum Gehirn ziehen, siehe 3), wie der Körper aktiviert ist und Handlungstendenzen wie Flucht, Angriff (das Wolfssystem) oder Erstarren und Einfrieren (Echsensystem) bereitstehen. Diese Impulse (4) werden automatisch in Gang gesetzt. Das ganze passiert blitzschnell; noch kommt das Verstandes-Hirn gar nicht mit.
So reichen beispielsweise Mini-Veränderungen im Gesicht der Chefin oder in Ihrem Tonfall, um bei uns emotionalen Alarm auszulösen, unsere eigene Körpermuskulatur und Drüsenaktivität zu verändern, unser Herz beginnt stärker zu klopfen und unser Magen sich zusammenzuziehen, wir verschränken automatisch die Arme vor der Brust, unsere Pupillen verengen sich, das alles noch bevor dem Verstandes-Hirn die mimische oder stimmliche Veränderung bei der Chefin bewusst ist und die eigene Emotion von Unsicherheit/Angst im emotionalen Zentrum benennen könnte. Sobald das Verstandes-Hirn jedoch den emotionalen Alarm registriert (5), beginnen die Gedanken zu rasen: "Hab ich etwas falsch gemacht?", "Ist sie sauer auf mich?", "Werde ich gleich geschimpft?". Vorstellungen flimmern wie in einem Kinofilm durch den Kopf, die weit über den aktuellen Moment hinausgehen "Was, wenn ich den Job verliere? Niemand wird mich je wieder einstellen! Ich werde die Wohnung verlieren…"
Verstandes-Hirn hinkt hinterher & löscht mit Kerosin
Der Verstand meint es gut, er ist eine Problemlösemaschine und betrachtet emotionalen Alarm (egal ob Angst, Ärger, Niedergeschlagenheit, Enttäuschung, Traurigkeit) als Problem, das gelöst werden muss. Er versucht, den emotionalen Alarm zu löschen. Auch hier gibt es eine Rückkopplungsschleife zum emotionalen Zentrum. Wie reagiert eine sensible Alarmanlage, wenn sie die geschilderten Gedanken und Vorstellungen im Verstandes-Hirn über elektro-chemische Botensignale mitkriegt? Ziemlich wahrscheinlich mit mehr Alarm! Das Verstandes-Hirn versucht, emotionalen Alarm zu löschen und löscht dummerweise mit Kerosin. Der Alarm schaukelt sich auf.
Alarm ist oft Fehlalarm
Das blitzschnelle autonome Alarm-System hat seinen Wert bei unmittelbaren Bedrohungen. So ist es absolut sinnvoll, impulsiv auf die Seite zu springen (Flucht), wenn der 9-Tonner-Laster direkt auf einen zurast. Hier wäre es tödlich, auf die Abwägungen des langsameren bewussten Verstandes-Hirn zu warten. Allerdings sind die unmittelbaren Bedrohungen in zivilisierten Zeiten sehr begrenzt. Dennoch geraten wir ständig in inneren Alarm. Gleichzeitig ist es sehr oft Fehlalarm, weil Leib- und Leben akut sicher sind. Die beschriebene Aufschaukelung bei Fehlalarm kann daher oft viel Leiden nach sich ziehen.
Wie mit Alarm umgehen?
Es macht wenig Sinn, mit dem Wolfs-&Echsen-System verstandesmäßig zu diskutieren und den loyalen Wächtern zu sagen, dass sie "keine Angst haben" brauchen oder "sich nicht ärgern" sollen. Wölfe und Echsen verstehen das nicht. Eine Alternative ist zu trainieren, in die mitfühlende Beobachterhaltung zu wechseln und "Wolfs-" und "Echsen-Flüsterer" zu werden. Damit ist gemeint:
# Alarmaktivierungen frühzeitig erkennen
# Anerkennen, dass Wolfi & Echse loyal sind und das Beste wollen (Wohlwollen herstellen)
# sich als Wolfi- & EchsenflüsterIn engagieren und Körperaufschaukelung (3 i.d.Grafik) dämpfen
# sich von Gedanken-Verstrickung lösen - das eigene Denken mit Abstand betrachten (= gedankliche Aufschaukelungsschleife 6 mit Defusion dämpfen)
# Mitfühlend-weich gegenüber dem aktuellen Leiden sein (die Haltung einer liebevollen Mutter/eines warmherzigen Vaters einnehmen)
# Handlung bewusst so wählen, dass diese den längerfristigen, persönlichen Wichtigkeiten dient --> direkten Einfluss auf (4) nehmen
Sozialer Ausschluss als "Bedrohung"
Eines der stärksten Bedrohungs-Signale für das autonome Alarmsystem sind Anzeichen, dass wir aus der Gemeinschaft geächtet herausfallen. In Zeiten, als Menschen noch Jäger- & Sammler in der Savanne waren, war der Ausschluss aus der Gemeinschaft (der soziale Tod) gleichbedeutend mit dem tatsächlichen Tod - ein Einzelner allein in der Savanne fiel dem Säbelzahntiger unweigerlich zum Opfer. Dies ist in modernen Zeiten nicht mehr der Fall: Heute ist die Angst vor negativer Bewertung zwar Alarm und doch ist es Fehlalarm, denn man wird es im eigentlichen Sinne des Wortes überleben.
Übung zum Vergegenwärtigen
Hier eine Vergegenwärtigungsübung zum Trainieren der mitfühlenden Beobachterfertigkeit im Alltag.
Unterbreche dafür Deinen Alltag immer wieder. Halte inne. Beobachte drei Atemzüge lang die Bewegung im Körper, die sich bei jedem Ein- und Ausatmen sanft durch die Nase, beobachten lässt. Gehe wie mit einer Taschenlampe mit warmen weichen Licht, Deinen Körper durch und nimm' sanft Deine automatische Körperhaltung wahr.
Atme dabei sanft drei Atemzüge durch die Nase.
Dann mach Dir bewusst, dass Du fünf Finger an der Hand hast und gehe entsprechend die fünf Fragen in dieser Reihenfolge durch:
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1= Was für einen Gedanken bemerke ich gerade?
2= Was für eine Empfindung ist gerade im Körper & was für eine Emotion ist gerade bei mir?
3= Was für einen Impuls oder Handlungstendenz folge ich gerade?
4= Was ist jetzt gerade wirklich wichtig oder wertvoll für mich?
5= Was brauche ich gerade (um das wirklich Wichtige zu leben)?
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Nehme danach abermals 3 bewusste Atemzüge im Körper wahr. Dann wähle, mit welcher Mini-Handlung, mit der Du das wirklich Wichtige im Alltag lebst. Motiviere Dich immer öfter zu üben: Bewusstheit = Aussteigen aus dem Automatismus.
Sammle als Motivations-Hilfsmittel Bohnen: Für jedes einzelne Innehalten und Üben 1 Bohne von der rechten in die linke Hosentasche stecken. Notiere am Ende des Tages die Bohnenzahl in Dein Projektbuch + einen Satz, für was Du dieses Bohnensammeln machst. Auch dann, wenn die Bohnenzahl bei 0 ist, notiere es. Mit dem Satz erinnere Dich dran, für was es für Dich persönlich wichtig ist, mit den Vergegenwärtigungsmomenten weiter zu machen oder wieder zu beginnen. Denke dran: die Regel heißt, 1 Bohne mehr als am Vortag, nicht 1 Bohne mehr als der Höchststand.
--> zur Bedeutung von achtsamer Vergegenwärtigung für den Umgang mit dem inneren Alarm-System
--> zum Umgang mit den blauen Linien des Verstandes-Hirn
--> Infos zu: Selbstmitgefühl
--> Infos zu: Mitgefühl
--> Infos zu: Achtsamkeit
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